Eine weitere große Säule des modernen Genossenschaftswesen sind die Konsumgenossenschaften. Auch ihre Entwicklung nimmt mit dem Einsetzen der Industrialisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen ihren Anfang. Die meist von Arbeitern und Handwerkern gegründeten Konsumvereine sollten vor allem die Versorgung der unteren Bevölkerungsschichten mit besseren Waren zu günstigeren Preisen verbessern.
Im Zuge der Industriellen Revolution wurde vor allem die schnell wachsende Arbeiterschaft in den Städten von ihren traditionellen Versorgungsmöglichkeiten abgeschnitten. Stattdessen waren die Arbeiter auf Krämer angewiesen, die nur zu oft mit verfälschten Lebensmitteln die Notlage der Arbeiter auszunutzen suchten: Da wurden unter anderem Mehl oder Milch mit Gips bzw. Wasser gestreckt, verdorbene Butter unter einem Überzug frischer Butter getarnt, Nudeln durch Urin anstatt durch Eidotter gelb eingefärbt oder die Verkaufspreise durch zusätzliche Gewichte unter den Waagschalen manipuliert.
Englische Vorreiter: Die Pioniere von Rochedale
Gegen diese Praktiken versuchten sich die Arbeiter und Handwerker durch die Gründung von Konsumvereinen bzw. Ladengenossenschaften zu wehren. Erste Beispiele solcher genossenschaftlich organisierten Geschäfte gab es in England bereits im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Als wegweisend für die weitere Entwicklung der Konsumgenossenschaften erwies sich jedoch erst die 1844 von 28 Webern in Nordengland gegründete Rochdale Society of Equitable Pioneers. Zu den Grundsätzen dieser „redlichen Pioniere von Rochdale“ zählten eine ehrliche Geschäftspolitik mit unverfälschter Ware zu vollem Gewicht und mit einkalkulierten Gewinnmargen, eine begrenzte Verzinsung der Genossenschaftsanteile verbunden mit einer Überschuss-Rückvergütung auf die getätigten Käufe sowie ein demokratisches Organisationsprinzip mit jeweils nur einer Stimme je Mitglied unabhängig von der Höhe der Kapitalbeteiligung.
Zögerliche Anfänge in Deutschland
Einer der ersten deutschen Konsumverein war der 1845 von einigen Chemnitzer Webern und Spinnern gegründete Spar- und Konsumverein Ermunterung. Durch gemeinsame größere Einkäufe und die teilweise Umgehung des Zwischenhandels wollten sie ihre täglichen Bedarfswaren günstiger erwerben. Das dafür vorab benötigte Kapital wurde durch einen wöchentlichen Mitgliedsbeitrag von zweieinhalb Groschen erhoben. Nicht für den Einkauf benötigte Gelder wurden zinsbringend angelegt und damit später eine Sterbeunterstützungskasse finanziert. Weitere bekannte frühe konsumgenossenschaftliche Gründungen sind die Eilenburger Lebensmittel-Association von 1850 – die heute als erste „richtige“ Konsumgenossenschaft gilt – und die Hamburger Gesellschaft zur Verteilung von Lebensbedürfnissen von 1852.
Insgesamt verlief die Entwicklung der deutschen Konsumvereine anfänglich jedoch eher zögerlich. Ein Grund hierfür war die misstrauische Haltung der staatlichen Obrigkeit gegenüber den Vereinen. Ein anderer Grund findet sich in der starken Mittelschichtenorientierung der sich vor allem in den Städten nach den Vorstellungen Hermann Schulze-Delitzschs ausbreitenden Genossenschaftsbewegung. Mit den Genossenschaften wollte Schulze-Delitzsch in erster Linie die Wettbewerbsfähigkeit von Handwerkern und Händlern stärken – für welche Konsumvereine wiederum eine Konkurrenz darstellten. Erst als ab Ende der 1860er Jahren vermehrt auch Arbeiter die Prinzipien der Selbsthilfe und Selbstverantwortung für sich entdeckten, nahm die Bewegung nennenswerte Ausmaße an.
Weiterführende Artikel auf genossenschaftsgeschichte.info:
- Selbsthilfe gegen die Not: Die Wurzeln der modernen Genossenschaftsidee
- Kurze Blüte: Die Liedke’schen Zwecksparvereine
- Hintergrund: Die Redlichen Pioniere von Rochdale
- Die Entwicklung der Konsumgenossenschaften in der Bonner Republik (1949-1989)
- Übersicht: Vordenker & Wegbereiter des deutschen Genossenschaftswesens
- Hintergrund: Industrielle Revolution in Deutschland