Überblick

Gründerväter des deutschen Genossenschaftswesens

Neben Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen – den beiden großen Namen des deutschen Genossenschaftswesens – gab es noch zahlreiche weitere Persönlichkeiten, die der Entwicklung der deutschen Genossenschaften entscheidende Impulse gegeben haben. Im Folgenden eine kleine, nicht abschließende Übersicht über einige dieser Vordenker. (Ergänzungen und Hinweise auf weitere Wegbereiter sind gerne willkommen.)

Porträt: Heinrich Ludwig Lambert Gall Ludwig Gall (1860) Quelle: wikipedia

Bereits 1825 erwog beispielsweise der Sozialist Heinrich Ludwig Lambert Gall (1791-1863) in seinem sozial- und wirtschaftstheoretischen Hauptwerk mit dem längeren Titel „Was könnte helfen? Immerwährende Getreidelagerung, um jeder Not des Mangels und des Überflusses auf immer zu begegnen, und Kreditscheine, durch die Getreidevorräte verbürgt, um der Alleinherrschaft des Geldes ein Ende zu bereiten“ die Dörfer als genossenschaftliche Zusammenschlüsse zu organisieren, verbunden mit gemeinsamer Felderbewirtschaftung und gemeinschaftlich betriebenen Backöfen und Waschhäusern.

Zwischen 1838 und 1840 veröffentlichte der damals noch recht junge deutsche Rechtsphilosoph Heinrich Ahrens (1808-1874) sein Hauptwerk „Das Naturrecht oder die Rechtsphilosophie“. Darin entwickelte er auch eine Genossenschaftslehre und äußerte sich sehr angetan von dieser Organisationsform: „Die Genossenschaft ist die würdigste, auf dem Prinzip der rechtlichen Gleichheit aller Mitglieder beruhenden Gesellschaftsform, in der die Einzelpersönlichkeit und ihr Sonderrecht mit einem höheren Ganzen durch den Gesamtzweck verknüpft wird…“

1844 erschien vom Berliner Universitätsprofessor Wilhelm Adolf Schmidt (1812-1887) die Abhandlung über „Die Zukunft der arbeitenden Klasse und die Vereine für ihr Wohl“. Darin verglich er das damals vorherrschende Wohltätigkeitsprinzip mit dem Prinzip der Selbsthilfe. Zudem forderte er ein landesweites Netz von Assoziationen, durch welches sich die breiten Massen aus ihrer Verelendung emporarbeiten sollten.

Ein Jahr später publizierte der Berliner Generalstaatskassenbuchhalter Gottlieb Samuel Liedke (1803-1852) seine Schrift „Hebung der Not der arbeitenden Klassen durch Selbsthilfe“, die infolge der hohen Nachfrage bereits zwei Jahre später in der 2. Auflage erschien. Darin riet er den unteren Schichten zur Bildung von Zwecksparvereinen (Liedkesche Vereine). Hierin sollten kleine und sehr kleine Geldbeträge angespart werden, um dann vor dem Winter Lebensmittel und Brennstoffe in größeren Mengen kaufen zu können. Durch die Bündelung der Nachfrage sollten die Zwecksparvereine zudem beim Einkauf Mengenrabatte für ihre Mitglieder erzielen (Prinzip der Konsumgenossenschaft).

Porträt: Victor Aime Huber um 1865 Victor Aime Huber
(um 1865)
Quelle: PA mb/lit

1848 erschien von Bruno Hildebrand (1812-1878) das Werk „Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft“. Darin entwickelte er auch einen Plan für Arbeiter- und Gewerbsgenossenschaften, die mit öffentlichem Kredit arbeiten sollten. Ebenfalls 1848 veröffentlichte der Philologie-Professor Victor Aimé Huber (1800-1869) seine Broschüre „Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirtschaftsvereine und innere Ansiedlung“. Darin verarbeitete er seine auf Reisen nach England gewonnenen Erfahrungen über Bau- und Konsumvereine. Bereits 1846 hatte er zudem unter dem Titel „Innere Colonisation“ ein Konzept für Wohnungsgenossenschaften propagiert.

Es kann durchaus angenommen werden, dass zumindest Hermann Schulze-Delitzsch, der 1848 in der Berlin Nationalversammlung den Vorsitz der Kommission für Handwerksangelegenheiten führte, die ebenfalls in Berlin ansässigen Schmidt und Liedke kannte bzw. zumindest mit ihren Schriften vertraut war und hieraus Anstöße für sein Assoziationsmodell übernahm. Huber wurde von Schulze-Delitzsch zudem bereits 1852 als Quelle zitiert, bevor sie sich vier Jahre später auch persönlich kennen lernten.

Porträt: Johann Friedrich Oberlin Johann Friedrich Oberlin
(event. um 1920?)
Quelle: wikipedia

Friedrich Wilhelm Raiffeisen wiederum war zumindest mit den wesentlichen Aufsätzen und Ausführungen Schulze-Delitzschs vertraut. Darüber dürfte er wohl auch auf den ein oder anderen genannten Vordenker aufmerksam geworden sein. Inwiefern er ihre Schriften tatsächlich studiert hat, darüber kann heute nur spekuliert werden. Besonders interessant für Raiffeisen dürfte aber auch das Werk des evangelischen Pfarrers Johann Friedrich Oberlin (1740-1826) gewesen sein. Um die dramatische Armut in seiner Pfarrgemeinde Waldersbach (bei Straßburg) zu lindern, hatte er bereits ab 1767 zahlreiche Reformen angestoßen, die auch Raiffeisen später als Bürgermeister im Westerwald umsetzen sollte: Verbesserungen in der Landwirtschaft, Straßenbau als Infrastrukturprojekte, Bau von Schulen, Gründung landwirtschaftlicher Vereine und sogar einer regionalen Leih- und Kreditanstalt (1785). In der genossenschaftsgeschichtlichen Literatur wurde mehrfach darüber spekuliert, inwieweit Raiffeisen mit dem Schaffen Oberlins vertraut war. Konkrete Belege dafür gibt es meines Wissens nach bislang nicht, doch die Annahme erscheint nicht unberechtigt.

Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle auch Eduard Gotthilf Pfeiffer (1835-1921) als einer der Pioniere der deutschen Konsumgenossenschaftsbewegung. Pfeiffer wollte die Arbeiterschaft durch Verbesserung ihrer Lebensumstände in das bürgerliche Gesellschaftssystem einbinden. Eine Möglichkeit hierzu sah er in der Bildung von Selbsthilfevereinigungen. 1863 erschien sein erstes Buch „Über Genossenschaftswesen„, 1865 folgte die Schrift „Die Consumvereine, ihr Wesen und Wirken. Nebst einer praktischen Anleitung zu deren Gründung und Errichtung“.