Forschungsprojekt

Genossenschaften in Ost- und Mitteleuropa (1850-1940)

Am 9. und 10. Mai 2014 fand in Halle/Saale die Nachwuchswissenschaftlertagung der Arbeitsgemeinschaft Genossenschaftlicher Institute (AGI) statt. Im Rahmen dessen stellte Dr. Torsten Lorenz, DAAD-Langzeitdozent für Geschichte am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag, in einem interessanten Vortrag sein Habilitationsprojekt zur Geschichte der Genossenschaftsbewegung in Ostmitteleuropa vor.

Westpolen: Volksbank Bielitz um 1940Mitgliederbuch der Volksbank Bielitz, Schlesien (um 1940) Bild: PA mb/in

In seiner Forschungsarbeit konzentriert sich Lorenz auf drei Länder: Polen, die Tschechoslowakei (Böhmen, Mähren) sowie die Westukraine (das ehemalige österreichische Galizien). Sein Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Gründung der ersten Einzelgenossenschaften in den 1850er Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg, der laut Lorenz das Ende der „klassischen“ Ära des Genossenschaftswesens in Ostmitteleuropa bedeutete. Dieses Beinahe-Jahrhundert unterteilt er wiederum in vier Entwicklungsphasen:

  • Die Anfänge in den 1850er und 1860er Jahren, gekennzeichnet durch wenige erste Genossenschaften, deren Mitgliederstrukturen noch stark berufsständisch und gemischt-national ausgeprägt sind. Die Ideen von Hermann Schulze-Delitzsch werden dabei stark rezipiert, insbesondere in Westpolen und Böhmen.
  • Die Segregationsphase in den 1860er und 1870er Jahren, in der die Zahl der Genossenschaften kontinuierlich zunimmt, gleichzeitig aber auch die Nationalisierung an Bedeutung gewinnt. Lorenz verweist in diesem Zusammenhang auf die damalige besondere Rolle der Juden im Wirtschaftsleben der von ihm untersuchten Regionen, denen die zunehmend nationalistisch geprägten Genossenschaften als Gegenpol gegenüber gestellt werden. Zudem befördert der „ethnische Flickenteppich“, in dem ethnische und soziale Trennlinien oftmals zusammen fallen, eine stärkere Nationalisierung und Politisierung der Genossenschaftsbewegung. Geprägt wird die Segregationsphase durch ein stärkeres staatliches Wohlwollen, das sich unter anderem in der Schaffung gesetzlicher Rahmenbedingungen und zum Teil auch der finanziellen Förderung des Genossenschaftswesens ausdrückt.
  • Die Phase der Symbiose zwischen National- und Genossenschaftsbewegung ab den 1890er Jahren, während derer der Nationalismus zur Massenbewegung wird und mit ihm auch die Genossenschaften als sein „wirtschaftlicher Zweig“. Lorenz betont in diesem Zusammenhang das Prinzip der Personalunion von Funktionen in der sich radikalisierenden National- und der Genossenschaftsbewegung. Zudem gewinnt das „günstigere“ Raiffeisen-Modell an Bedeutung (Stichworte: František Cyril Kampelík als „tschechischer Raiffeisen“ bzw. Franciszek Stefczyk als „polnischer Raiffeisen“).
  • Die Phase der „Fortdauernden Mobilisierung“ ab 1918 in den neuen Staaten, in welcher die staatlichen Eingriffe ins Genossenschaftswesen beständig zunehmen. Dabei ist es insbesondere die Weltwirtschaftskrise ab 1929, die zu einer stärkeren Einbindung der Genossenschaften in staatswirtschaftliche Maßnahmen und damit zu einem Verlust der genossenschaftlichen Selbstverwaltung und Eigenständigkeit führt. Der genossenschaftliche Sektor gewinnt in der Phase weiter an Gewicht, jedoch bewirkt der zunehmende Druck durch privatwirtschaftliche Konkurrenz eine anhaltende Konzentration und Professionalisierung.

Im Rahmen seines Habilitationsprojektes will sich Lorenz auf einige thematische Schwerpunkte fokussieren. Dazu zählen insbesondere die Transfergeschichte des Genossenschaftswesens, die ethnische Segregation und die Verknüpfung der Genossenschaftsbewegung mit den verschiedenen nationalen Bewegungen, die Rolle der Genossenschaften bei der wirtschaftlichen Entwicklung der ländlichen Räume, das Zusammenspiel zwischen Genossenschaften und Staat sowie die Entwicklung der genossenschaftlichen Eliten. Für seine Recherchen greift er auf gedruckte Quellen (Genossenschaftspresse, theoretische Schriften) und Archivalien aus polnischen (Warschau, Posen), tschechischen (Prag) sowie ukrainischen Archiven (Lemberg) zurück.

Weiterführende Literatur zum Thema:

  • Eduard Kubů, Torsten Lorenz, Uwe Müller, Jiři Šouša (Hg.): „Agrarismus und Agrareliten in Mittel- und Ostmitteleuropa“, Dokořan, Prag 2013
  • Torsten Lorenz: „Nationalismus, Paternalismus und Demokratie. Werte und Praxis der Zivilgesellschaft im polnischen Genossenschaftswesen der Provinz Posen vor dem Ersten Weltkrieg“, in: Jörg Hackmann (Hg.): „Vereinskultur und Zivilgesellschaft in Nordosteuropa. Regionale Spezifik und europäische Zusammenhänge“, Böhlau, Köln 2012, S. 653-675
  • Torsten Lorenz (Hg.): „Cooperatives in Ethnic Conflicts. Eastern Europe from the late 19th until the mid 20th Century“, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2006 (= Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas, Bd. 15)
  • Torsten Lorenz: „Genossenschaften im Nationalitätenkampf“, in: Eduard Kubu/Helga Schultz (Hg.): „Wirtschaftsnationalismus als Entwicklungsstrategie ostmitteleuropäischer Eliten“, Ales Skřívan/Berliner Wissenschafts-Verlag, Prag/Berlin 2004, S. 121-133

Kontakt:
Dr. Torsten Lorenz, DAAD-Langzeitdozent für Geschichte am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Philosophischen Fakultät an der Karls-Universität Prag,
Profilseite der Uni Prag (engl.), Profilseite bei Clio Online
e-Mail: torsten.lorenz[at]ff.cuni.cz


(Ende) genossenschaftsgeschichte.info/03.06.2014/mar