Die Wurzeln der Raiffeisen’schen Genossenschaften reichen zurück bis in den Westerwald zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Dort sah sich der noch junge Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen mit den Problemen der oftmals mittellosen Landbevölkerung konfrontiert. Bei Missernten oder verendetem Vieh suchten viele Bauern ihr Heil bei Wucherern, die ihnen zu ernormen Zinsraten Geld liehen.
(Porträt, eventuell um 1870)Quelle: Stiftung GIZ
Konnten die Bauern das Geld nicht zurückzahlen, drohte ihnen die Zwangsversteigerung der Höfe. Wie Hermann Schulze-Delitzsch in der Stadt setzte Raiffeisen auf dem Land auf regionale Zusammenschlüsse der Dorfbewohner – wobei er infolge seines von christlichen Werten geprägten Lebensbildes die Faktoren Christenpflicht und Nächstenliebe wesentlich stärker betonte.
Erste Erfahrungen damit, was Einzelne durch die Vereinigung ihrer Kräfte gemeinschaftlich erreichen konnten, sammelte Raiffeisen nach der schweren Missernte von 1846. Im darauf folgenden Notwinter 1846/47 bildete er in Weyerbusch zusammen mit wohlhabenden Bürgern eine Armenkommission („Weyerbuscher Brotverein“). Anfänglich diente sie nur der Verteilung von Lebensmittel. Doch bald weitete sie ihr Tätigkeitsfeld auf andere Aufgaben aus. So organisierten die Mitglieder unter anderem den gemeinschaftlichen Bezug von Saatgut sowie die Errichtung eines Gemeindebackofens.
Von der Nächstenliebe zur Selbsthilfe
Motiviert von den positiven Folgen rief Raiffeisen – als er im Frühjahr 1849 zum Bürgermeister des größeren Amtsbezirks Flammersfeld berufen wurde – dort am 1. Dezember 1849 den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirte“ ins Leben. Wie schon in Weyerbusch, so setzte Raiffeisen auch in Flammersfeld bei der Finanzierung des Vereins auf mildtätige Unterstützung durch wohlhabende Einwohner. Zu Beginn konzentrierte sich die Tätigkeit des Hilfsvereins vor allem auf den Ankauf von Vieh, das bedürftigen Landwirten der Gemeinde dann gegen eine allmähliche Tilgung des Kaufpreises überlassen wurde. Bald schon ging man jedoch dazu über, die Bauern selbst ihr Vieh kaufen zu lassen und ihnen dafür direkt ein längerfristiges Darlehn zu gewähren.
Und auch in Heddesdorf, wo Raiffeisen ab September 1852 als Bürgermeister tätig war, schuf er schon wenige Monate nach seinem Amtsantritt einen Wohltätigkeitsverein. Zu seinen Aufgaben zählten neben der Gewährung von Darlehen an unbemittelte Landwirte und der gemeinschaftlichen Beschaffung von Vieh auch die Fürsorge und Erziehung verwahrloster Kinder, die Beschäftigung „arbeitsscheuer“ Personen und entlassener Häftlinge sowie der Aufbau einer Volksbibliothek.
Der Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein entwickelt sich anfänglich sehr zur Zufriedenheit Raiffeisens. Doch nach einigen Jahren machte sich ein zunehmender Interessensschwund bei den Mitgliedern bemerkbar. Immer mehr Aufgabenbereiche mussten aufgegeben werden, bis am Ende nur noch das Darlehnsgeschäft übrig geblieben war. Wie vor ihm schon Schulze-Delitzsch, so musste auch Raiffeisen erkennen, dass Wohltätigkeit und die von ihm immer wieder betonte christliche Nächstenliebe keine nachhaltige Grundlage für seine Vereine boten. Stattdessen rückte bei ihm ebenfalls die reine Selbsthilfe in den Fokus.
(Emailleschild, um 1935)Bild: PA mb/ar
Als ein wichtiger Schritt in diese Richtung erwiesen sich vier weitere Hilfsvereine, die bereits 1862 unter Mitwirkung Raiffeisens entstanden waren. Ihr Geschäftsgebiet beschränkte sich örtlich auf nur noch eine Gemeinde bzw. Kirchspiel, in dem die Beteiligten einander und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse genau kannten. Zudem fokussierte sich ihre Tätigkeit nur auf die Darlehnsgewährung – was zur Bezeichnung Darlehnskassen-Vereine führte. Von diesen vier Neugründungen avancierte der am 27. März 1862 ins Leben gerufene Darlehnskassen-Verein Anhausen, bei dem auch ein Schwager Raiffeisens wirkte, zum Modell für die späteren Genossenschaften Raiffeisen’scher Prägung: Die Mitglieder zahlten – im Gegensatz zum System Schulze-Delitzschs – keine Einlagen oder Eintrittsgelder und mussten auch keine Geschäftsanteile erwerben. Die Finanzierung der Darlehnskassen erfolgte stattdessen über die Aufnahme von Anleihen gegen die solidarische Haftung der Mitglieder.
Ausbreitung der Raiffeisen-Idee
„Die Darlehnskassen-Vereine…“ (Cover der Erstausgabe von 1866)Quelle: k.A.
Im Herbst 1865 wurde Raiffeisen aus gesundheitlichen Gründen im Alter von 47 Jahren pensioniert. Fortan konzentrierte er sich vor allem der Verbreitung seiner genossenschaftlichen Ideen. Ein wesentlicher Schritt hierzu war sein 1866 veröffentlichtes Buch „Die Darlehnskassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“. Darin schilderte er seine Erfahrungen beim Aufbau von Selbsthilfeorganisationen und gab Hinweise für die praktische Umsetzung. Raiffeisens Ratgeber fand rege Verbreitung. Noch zu seinen Lebzeiten erschien er in insgesamt fünf Auflagen, wobei neben den Darlehnskassen-Vereinen auch andere Genossenschaftsarten wie Konsum-, Verkaufs-, Winzer-, Molkerei- und Viehversicherungsgenossenschaften berücksichtigt wurden.
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Ein weiterer wichtiger Schritt war der Zusammenschluss von Einzelgenossenschaften durch die Gründung von übergeordneten Verbänden. Als ersten Spitzenverband seiner ländlichen Genossenschaften rief Raiffeisen am 26. Juni 1877 unter Beteiligung von 24 Darlehnskassen-Vereinen in Neuwied den „Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften“ ins Leben.
Vereinigung von Bank- und Warengeschäft
Bezogen auf den ländlichen Raum sah Raiffeisen in seinen Darlehnskassen den Grundstein für die Bildung einer umfassenden Allzweckgenossenschaft. Die parallele Existenz von mehreren Spezialgenossenschaften in einem Dorf hielt er infolge der meist kleinen, abgegrenzten Geschäftsgebiete für wenig zweckmäßig. Stattdessen regte Raiffeisen bereits 1869 beim Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein an, den Bezug benötigter Produktionsmittel wie Saatgut, Dünger, Futtermittel, Kohle, Vieh oder Ackergeräte gemeinsam zu organisieren. Zwei Jahre später hatten bereits 20 Darlehnskassen aus der Umgebung ebenfalls das landwirtschaftliche Warengeschäft aufgenommen.
Zweiteilung der ländlichen Genossenschaftsbewegung
Mit seinem Konzept der dörflichen Universalgenossenschaften stieß Raiffeisen jedoch auf etliche Kritik, auch aus den Reihen der ländlichen Genossenschaftler. Parallel zur Raiffeisens Anwaltschafts-Verband entwickelte sich daher noch ein zweiter nationaler Spitzenverband für das ländliche Genossenschaftswesen. Federführend war hier der Jurist Wilhelm Haas (1839-1913), der ursprünglich als Beamter im Großherzogtum Hessen tätig war. Um die wirtschaftliche Entwicklung der ländlichen Region zu fördern, initiierte er – im Gegensatz zu den gemischtwirtschaftlich ausgestalteten Universalgenossenschaften Raiffeisens – ab 1872 die Gründung der ersten speziellen landwirtschaftlichen Bezugsgenossenschaften in Deutschland. Bereits 1873 schlossen sich diese im „Verband der hessischen landwirtschaftlichen Konsumvereine“ zusammen.
Schnell breitete sich die Idee der Spartengenossenschaften über die Hessischen Grenzen hinweg aus. Es entstanden mehrere weitere Provinzial- und Landesverbände, unter anderem auch speziell für Molkerei- oder Winzergenossenschaften sowie die ebenfalls im Haas’schen System angekommenen Darlehnskassen. 1883 gründeten schließlich neun dieser Regionalverbände mit insgesamt 248 Genossenschaften die „Vereinigung deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften“. Die so entstandene Zweiteilung des ländlichen Genossenschaftswesens wurde erst 1930 mit dem Zusammenschluss beider Verbände zum „Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen“ überwunden.
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- Biografie: Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888)
- Modellcharakter: Der Anhauser Darlehnskassen-Verein von 1862
- Meinungsverschiedenheit: Der Systemstreit zwischen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch
- Hintergrund: Vormoderne Genossenschaften
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