Je mehr sich die Genossenschaften etablierten, um so stärker traten auch unterschiedliche Tendenzen über die weitere Ausgestaltung des Genossenschaftswesens auf. Differenzen über die Haftpflichtform, die Akzeptanz staatlicher Subventionen oder auch die Gründung spezieller Spartengenossenschaft spalteten die Bewegung – und damit zeitweise auch die großen nationalen Verbände von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen.
Zwei Spitzenverbände in der Landwirtschaft
Im ländlichen Genossenschaftswesen entstand bereits wenige Jahre nach Raiffeisens Anwaltschaft noch ein zweiter nationaler Spitzenverband. Federführend war hier der Jurist Wilhelm Haas (1839-1913), der ursprünglich als Beamter im Großherzogtum Hessen tätig war. Um die wirtschaftliche Entwicklung der ländlichen Region zu fördern, initiierte er – im Gegensatz zu den gemischtwirtschaftlich ausgestalteten Universalgenossenschaften Raiffeisens – ab 1872 die Gründung der ersten speziellen landwirtschaftlichen Bezugsgenossenschaften in Deutschland.
Schnell breitete sich die Idee der Spartengenossenschaften über die Hessischen Grenzen hinweg aus. Es entstanden mehrere weitere Provinzial- und Landesverbände, unter anderem auch speziell für die Molkereigenossenschaften sowie die ebenfalls im Haas’schen System angekommenen Darlehnskassen. 1883 gründeten schließlich neun dieser Regionalverbände mit insgesamt rund 250 Genossenschaften die Vereinigung deutscher landwirtschaftlicher Genossenschaften (ab 1903 Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften).
Streit um Haftpflicht und staatliche Subventionen
Und auch bei den gewerblichen Genossenschaften kam es zu einer Spaltung. Ein Auslöser hierfür war unter anderem die 1895 gegründete Preußische Central-Genossenschaftskasse. In der bereits von Schulze-Delitzsch geprägten Überzeugung, dass jegliche Form staatlicher Subvention abzulehnen sei, stand der Allgemeine Genossenschaftsverband der staatlich geförderten Zentralkasse eher ablehnend gegenüber. Doch diese starre Haltung ließ sich nicht auf Dauer durchhalten. Um ebenfalls von den günstigen Krediten der Preußenkasse profitieren zu können, wurden einige der nach dem System von Schulze-Delitzsch gegründeten gewerblichen Genossenschaften zu Mitgliedern im Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften.
Daneben entstanden insbesondere auf Initiative des als Wanderlehrer tätigen Karl Korthaus (1859-1933) – der übrigens auch Mitglied im engeren Ausschuss der Preußenkasse war – ab 1896 eine Reihe neuer gewerblicher Genossenschaften und genossenschaftlicher Handwerker-Kreditkassen. Sie suchten über eigene Regionalverbände und regionale Zentralkassen den Kontakt mit der Preußenkasse. Zudem nutzten sie auch überwiegend die innerhalb des Allgemeinen Verbandes noch immer wenig akzeptierte Rechtsform der beschränkten Haftung. Im Dezember 1901 schlossen sich schließlich 84 dieser „neuen“ Handwerkergenossenschaften zum Hauptverband deutscher gewerblicher Genossenschaften zusammen und begründeten damit auch eine Zweiteilung im gewerblichen Genossenschaftswesen.
Ende des Dualismus
Diese Spaltung im gewerblichen Genossenschaftswesen wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg überwunden. Bis dahin hatte der Allgemeine Verband seine ablehnende Haltung gegenüber der Preußenkasse und der beschränkten Haftpflicht aufgegeben. Zudem stieg nach dem verlorenen Krieg der Druck zur Konsolidierung. 1920 vereinigten sich schließlich der Allgemeine Verband und der Hauptverband zum Deutschen Genossenschaftsverband (DGV). Er umfasste nun 3.500 Einzelgenossenschaften, darunter 1.400 Kreditgenossenschaften, sowie 31 regionale Revisionsverbände des städtisch-gewerblichen Genossenschaftswesens.
(Die Fusion betraf auch die noch im Allgemeinen Verband vertretenen Konsumgenossenschaften. Sie wechselten 1920 in den bereits 1903 gegründeten Zentralverband deutscher Konsumvereine.)
Neuer Riese in der Landwirtschaft
Bei den ländlichen Genossenschaften endete der Dualismus zwischen dem auf Raiffeisen zurückgehenden Generalverband und dem Haas’schen Reichsverband erst im Zuge der in den 1920er Jahren einsetzenden Agrarkrise. Zu deren Bekämpfung stellten die Preußenkasse sowie die Deutsche Reichsbank-Kreditanstalt erhebliche finanzielle Mittel zur Sanierung und Konsolidierung der deutschen Landwirtschaft bereit. Dabei drängte insbesondere die Preußenkasse auch auf eine Fusion der beiden ländlichen Genossenschaftsverbände. 1930 entstand so schließlich der Reichsverband der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften – Raiffeisen.
Mit insgesamt 36.339 landwirtschaftlichen Genossenschaften aller Sparten, darunter 20.592 Spar- und Darlehnskassen, und ihren rund vier Millionen Genossenschaftsmitgliedern war auf einen Schlag der größte Genossenschaftsverband der Welt entstanden, der in der Presse schon als „kommende Großmacht der Wirtschaft“ bezeichnet wurde. Doch bevor es dazu kommen konnte, stürzte die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 nicht nur die ländlichen Genossenschaften in eine grundlegende Zäsur.
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