In den Jahren nach der Revision des Genossenschaftsgesetzes erfuhr die deutsche Genossenschaftsbewegung einen deutlichen Auftrieb. Insgesamt stieg die Zahl der Selbsthilfevereinigungen von gut 5.000 im Jahr 1889 bis auf 48.000 zum 1. Juni 1922. Diese gewaltige Zahl bestand zu drei Vierteln aus landwirtschaftlichen Genossenschaften, innerhalb derer wiederum die 19.269 Ländlichen Spar- und Darlehnskassen dominierten.
Insbesondere die beiden Jahrzehnte um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gelten als die große Zeit der Genossenschaftsgründungen. Dazu beigetragen hat – neben der in den 1890er Jahren ebenfalls einsetzenden zweiten Phase der Industriellen Revolution in Deutschland – unter anderem auch die rechtliche Sicherheit durch die 1889 beschlossene Revision des Genossenschaftsgesetzes und die dabei eingeführte Rechtsform der beschränkten Haftung. Dadurch wurden die Befürchtungen von vermögenderen Mitgliedern ausgeräumt, im Konkursfall der Genossenschaft für die gesamten Schulden aufkommen zu müssen.
Eine zweite wesentliche Triebkraft für das starke Wachstum der Genossenschaften war die 1895 auf Initiative des preußischen Finanzministers Johannes von Miquel gegründete Preußische Central-Genossenschaftskasse (Preußenkasse). Über die bereits zuvor aus den Reihen der Genossenschaften entstandenen regionalen Zentralkassen förderte die staatliche Bank einzelne Genossenschaften mit billigen Krediten. Dadurch löste die Preußenkasse vor allem im ländlichen Bereich eine Gründungswelle aus. Im städtisch-gewerblichen Bereich stand man der staatlich geförderten Zentralkasse noch für viele Jahre eher ablehnend gegenüber.
Rasanter Zuwachs an Genossenschaften
Der enorme Aufschwung des deutschen Genossenschaftswesens spiegelt sich auch gut in den Statistiken des Deutschen Genossenschaftsverbandes und des Statistischen Reichsamtes wider. Danach stieg die Gesamtzahl der Genossenschaften zwischen Mai 1890 und Ende 1912 von 6.777 auf 33.657 an. Den größten Anteil nahmen bereits damals schon die Kreditgenossenschaften ein. Ihre Zahl wuchs im gleichen Zeitraum von 3.467 auf 18.830 – das entsprach rund 51 bzw. 56 Prozent aller Genossenschaften. Befördert wurde diese Entwicklung insbesondere von der ab den 1890er Jahren verstärkt erfolgten Gründung Raiffeisen’scher Darlehnskassen.
Die Zahl der gewerblichen und ländlichen Rohstoffgenossenschaften (Einkaufsgenossenschaften) stieg zwischen Mai 1890 und Ende 1912 insgesamt von 1.005 auf 2.681 an – wobei auch hier die ländlichen Genossenschaften deutlich überwogen. Die Konsumgenossenschaften nahmen in dieser Zeit von 868 auf 2.394 zu, die gewerblichen und ländlichen Magazin- und Absatzgenossenschaften zusammen von 68 auf 652.
Einen besonders starken Zuwachs erfuhren auch die kapitalintensiven Wohnungs- und Baugenossenschaften, wozu insbesondere das Genossenschaftsgesetz von 1889 und die damit ermöglichte beschränkte Haftpflicht beitrugen. So war die Zahl dieser Genossenschaften nach einem ersten Aufschwung zu Beginn der 1870er Jahre infolge der Gründerkrise von 1874 bis 1888 von 48 auf 28 zurückgegangen. Doch schon Ende 1895 zählte man bereits wieder 124 Baugenossenschaften. Zur Jahrhundertwende waren es 322 und bis 1908 stieg ihre Zahl auf 764 Zusammenschlüsse an – von denen 753 der Rechtsform der beschränkten Haftung unterlagen. Daneben profitierten sie davon, dass der Staat angesichts der herrschenden Wohnungsnot die Förderungswürdigkeit des gemeinnützigen Wohnungsbaus erkannt hatte und die Wohnungs- und Baugenossenschaften mit Steuerbefreiungen und ähnlichen Vergünstigungen zu unterstützen suchte.
Umwandlungen in Aktiengesellschaften
Auch wenn das revidierte Genossenschaftsgesetz von 1889 insgesamt für einen starken Aufschwung der Genossenschaftsbewegung sorgte, führte es auch zu einem teilweisen Aderlass unter den Genossenschaften. Denn die Einführung der beschränkten Haftung erleichterte einzelnen Genossenschaften die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft. So beklagte beispielsweise der Allgemeine Genossenschaftsverband 1896, dass eine ganze Reihe älterer Vereine mit großen Mitgliederzahlen seit 1889 in Kapitalgesellschaften umfirmiert wurden.
Darunter befanden sich beispielsweise die Volksbank Hamburg mit fast 10.000 Mitgliedern oder auch der Spar- und Vorschuss-Verein in Schwartau. Die bereits 1865 gegründete Kreditgenossenschaft wurde 1922 in eine Aktiengesellschaft umfirmiert.
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