Geburt der Volksbanken

Genossenschaftsbanken für Handwerk und Gewerbe (Schulze-Delitzsch)

Während die meisten Wurzeln des modernen Genossenschaftswesens in England und Frankreich liegen, ist der Typ der Kreditgenossenschaft eine originäre deutsche Entwicklung. Wesentlich vorangebracht wurde das Konzept durch den Genossenschaftspionier Hermann Schulze-Delitzsch. Im Mai 1850 rief er den Delitzscher Vorschuss-Verein ins Leben, der als Keimzelle der heutigen Volksbanken gilt.

Hermann Schulze-Delitzsch, Porträt um 1870Hermann Schulze-Delitzsch (um 1870) (Bild: PA mb/lit)

Eines der Hauptprobleme für die kleinen Gewerbetreibenden war im 19. Jahrhundert ihr Mangel an Kapital und die ihnen fehlenden Kreditmöglichkeiten. Kredite privater Bankiers oder der staatlich geförderten Pfandhäuser, Spar- und Leihkassen bekamen sie kaum. Stattdessen waren sie auf private Darlehnsgeber angewiesen, die jedoch meist wucherische Zinssätze verlangten. Zur Verbesserung der Finanzierungssituation für die Handwerker war bereits während der Revolution 1848/49 das Konzept der „Handwerkerbanken“ diskutiert worden. Da dieses aber seitens der deutschen Staaten kaum Beachtung gefunden hatte, traten gerade in einigen größeren Orten erste sogenannte Vorschussvereine zusammen.

Gut zitiert…: Hermann Schulze-Delitzsch

„Die drückenden Zeitverhältnisse, welche den Mangel an Kredit und das Verschwinden des baren Geldes in immer stärkeren Maße um sich greifen lassen, treffen den Arbeiter, den unbemittelten Gewerbetreibenden am härtesten, der auch früher schon Vorschüsse, die er zum Betriebe brauchte, sehr schwer und meist nur gegen wucherische Zinsen erhalten konnte.“

Wohltätigkeit statt Selbsthilfe

Vorstand Delitzscher Vorschuss-Vereins Vorstand und Aufsichtsrat des Delitzscher Vorschuss-Vereins (1853) (Bild: PA mb/lit)

Auf diese Idee griff auch Hermann Schulze-Delitzsch zurück, als er sein bereits in Form von Einkaufsgenossenschaften bei Tischlern und Schuhmachern erprobtes Konzept regionaler Selbsthilfeorganisationen auf den Bankenbereich übertrug. Dabei sollten den Genossenschaftsmitgliedern aus ihren eingezahlten Beiträgen im Bedarfsfall Kredite zu günstigen Zinskonditionen gewährt werden. Am 10. Mai 1850 kam der von ihm initiierte Delitzsche Vorschussverein zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen.

Wie Schulze-Delitzsch jedoch in späteren Veröffentlichungen kritisch einräumen sollte, war der Verein in seiner Anfangsphase noch durch einen deutlichen Mildtätigkeitscharakter geprägt. So finanzierte er sich anstatt aus den Beiträgen der überwiegend bedürftigen Mitglieder zum großen Teil durch Spenden und zinsfreie Darlehen wohlhabender Delitzscher Mitbürger. Zudem verfügte er noch nicht über eine gemeinsame Haftpflicht der Mitglieder, wie sie bei anderen Assoziationen bereits angewandt wurde.

Insgesamt, so urteilte Schulze-Delitzsch im Jahr 1853 rückblickend, konnten durch die Monatsbeiträge der Beteiligten kaum die Verwaltungskosten des Vorschussvereins gedeckt werden. Zudem kam es zu Kreditausfällen und der Kapitalabfluss konnte nicht durch neue Zuwendungen ersetzt werden. Von den vielen Geldgesuchen habe man nur verhältnismäßig wenige berücksichtigen können, weshalb sich die Vorschussempfänger immer mehr zurückgezogen hätten und die Teilnahmslosigkeit gestiegen sei.

Weiterentwicklung in Eilenburg

Dr. Anton Bernhardi, Eilenburg – Porträt-Bild Dr. Anton Bernhardi
(um 1850)
(Bild: PA mb/lit)

Dass das Konzept ausbaufähig war, zeigte sich noch im gleichen Jahr im Nachbarort. Dort wurde unter der Führung des mit Schulze-Delitzsch befreundeten Arztes Dr. Anton Bernhardi und des Schneidermeisters Ernst Bürmann im September 1850 der Eilenburger Darlehnskassen-Verein ins Leben gerufen. Seine Gründer setzten auf eine Führung nach bankwirtschaftlichen Grundsätzen. Zudem stellten sie ausdrücklich die Prinzipien Selbsthilfe und Selbstverantwortung heraus.

Das notwendige Kapital beschaffte sich der Verein neben den Mitgliedsbeiträgen durch Darlehen gegen landesübliche Zinsen und gegen solidarische Haftung der Mitglieder sowie die Hereinnahme von Publikumseinlagen gegen höhere Zinsen als sie die örtliche Sparkasse bot. Der Zinssatz von 14,3 Prozent pro Jahr war für die damaligen unterentwickelten kleinstädtischen Kapitalmärkte zwar sehr niedrig, für den Verein aber durchaus lukrativ. Er gestattete es dem Verein nach Deckung seiner Kapital- und Verwaltungskosten noch einen Reservefonds für mögliche Ausfälle bei Insolvenz einzelner Schuldner zu gründen und den Mitgliedern auf ihre Monatseinlagen eine Dividende zu gewähren.

„Vorschussvereine als Volksbanken“

Gestützt auf die Erfahrungen in Eilenburg überarbeitete Schulze-Delitzsch 1852 die Statuten seines Delitzscher Vorschussvereins. Sie sahen nun unter anderem den Wegfall der Kreditgewährung an Nichtmitglieder, die Aufnahme fremder Darlehen zur Bildung des Vereinskapitals sowie eine solidarische Haftung der Mitglieder vor. Gleichzeitig setzte Schulze-Delitzsch bei der Beschaffung des notwendigen Kapitals stärker auf regelmäßige Mitgliedsbeiträge. Damit suchte er auch den zuvor sehr ausgeprägten Mildtätigkeitscharakter in den Griff zu bekommen und stärker das Prinzip der Selbsthilfe zu betonen.

In seinem im März 1853 erschienenen „Assoziationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter“ schrieb er hierzu eindringlich, dass Vorschussvereine, wenn sie nachhaltig Bestand haben wollten, „keine Almosenanstalten sein können, dass sie vielmehr auf Rückzahlung und Verzinsung ihrer Vorschüsse rechnen müssen. (…) Nicht Arme zu unterstützen, sondern der völligen Verarmung vorzubeugen, ist der Zweck dieser Vereine.

So überarbeitet war Schulze-Delitzsch Konzept der Bankassociationen ein nachhaltiger Erfolg beschieden: sein Delitzscher Vorschussverein wurde zum Vorläufer der städtisch-gewerblichen Kreditgenossenschaften – die heute als Volksbanken firmieren. Und auch wenn sich diese Namenbezeichnung erst ab Ende der 1930er Jahre nachhaltig durchsetzen konnte, so wurde sie ebenfalls schon von Schulze-Delitzsch 1855 in seiner Schrift „Vorschussvereine als Volksbanken“ geprägt. Mit diesem Begriff wollte er ausdrücklich das Ziel seiner Überlegungen unterstreichen, breiten Schichten kleiner und mittelständischer Handwerker und Dienstleister den einfachen Zugang zu Kreditmitteln zu eröffnen.