„Jedem Bürger und jeder Familie ist eine gesunde und ihren Bedürfnissen entsprechende Wohnung zu sichern“ – diese Zielsetzung fand sich bereits 1949 in der Verfassung der frisch gegründeten DDR. An die tatkräftige Realisierung dieser anspruchsvollen Verpflichtung ging man jedoch erst einige Jahre später als Reaktion auf den Arbeiteraufstand im Juni 1953.
Um weiteren Unruhen vorzubeugen wurde damals der vorgesehene Aufbau der Grundstoff- und Schwerindustrie zugunsten einer Produktionssteigerung bei Konsumgütern zurückgefahren. Und zu den notwendigen Konsumgütern für die Verbesserung der Lebensbedingungen zählte eben auch ausreichender Wohnraum für die Werktätigen. Im Ergebnis dieser Überlegungen wurde unter anderem am 4. März 1954 die „Verordnung über die Finanzierung des Arbeiterwohnungsbaus“ erlassen. Sie bildete den Startschuss für eine wahre Gründungswelle von sozialistischen Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften (AWG).
AWG erleben „Gründungsboom“
Nur drei Wochen später, am 24. März 1954, wurde im Transformatoren- und Röntgenwerk Dresden die (meines Wissens nach) erste AWG der DDR gegründet. Zum Jahresende 1954 existierten in Ostdeutschland bereits 270 Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften; 1958 waren es bereits 740. Die Zahl der Mitglieder stieg zwischen 1954 und 1958 von rund 14.000 auf 74.000 an.
Für die rasche Verbreitung der AWG gab es neben der allgemeinen Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg zwei wesentliche Gründe: Zum einen bekamen die AWG von der DDR kostenfrei Bauland zur dauerhaften Nutzung zugewiesen (welches aber offiziell Staatseigentum blieb). Zum anderen gewährte der Staat den AWG zinslose Kredite über 80 Prozent (ab 1957 sogar 85 Prozent) der Baukosten. Somit brauchten die Genossenschaften bzw. ihre Trägerbetriebe nur 15 bis 20 Prozent der Baukosten selber zu finanzieren.
Notwendige Eigenleistung der Mitglieder
Zum Aufbringen des notwendigen Eigenkapitals mussten die Mitglieder einen Genossenschaftsanteil erwerben. Dieser wurde anfänglich meist mit pauschal 2.500 Mark bewertet. Erst ab 1957 wurden nach Wohnungsgrößen gestaffelte Anteilsbeträge eingeführt.
Daneben mussten die Mitglieder vor der Zuteilung einer Wohnung eine sogenannte „Aufbauhilfe“ (Selbsthilfe) erbringen – entweder am AWG-Bauobjekt selbst oder allgemein im örtlichen Baugewerbe. Sie war zusätzlich zur normalen Berufsarbeit am Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub zu leisten und betrug offenbar mehrere hundert Stunden (Ein Zeitzeuge spricht bei der Leipziger AWG Polygraphie von 800 Stunden – siehe hierzu auch: „40 Jahre in der Platte“). Ab den 1970er Jahren wurden die praktischen Arbeitsleistungen mit der zunehmenden Mechanisierung des Baugeschehens und der Einführung der Plattenbauweise nach und nach durch größere Geldzahlungen der Genossenschaftsmitglieder ersetzt.
Im Gegenzug für die finanzielle Belastung durch den Mitgliedsanteil sowie das Leisten zahlreicher Aufbaustunden erwarben sich die AWG-Mitglieder einen Anspruch auf die Zuteilung einer modernen Wohnung in (meistens wohl) drei Jahren. Zum Vergleich: Bei der kommunalen Wohnraumverwaltung betrug die Wartezeit oftmals das Dreifache.
Bedeutungsverlust durch neue Wirtschaftspolitik
Nach dem ersten Gründungsboom der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften ging der genossenschaftliche Wohnungsbau in den 60er Jahren spürbar zurück. Während 1962 und 1963 noch rund jede zweite Neubauwohnung durch eine AWG errichtet wurde, waren es 1965 nur noch ein knappes Drittel und 1970 sogar nicht mal mehr ein Fünftel. Ein wesentlicher Grund hierfür war die von der DDR-Wirtschaftspolitik forcierte Schaffung neuer Industriekomplexe. Die dafür eingeplanten Arbeiterwohnungen wurden bereits parallel mit dem Aufbau der jeweiligen Industrieanlagen erstellt – also noch bevor die benötigten Arbeitskräfte am neuen Industrieort angesiedelt wurden.
1972 wurde daher unter anderem der mögliche Mitgliederkreis der AWG erweitert. Konnten bis dahin nur die Mitarbeiter des jeweiligen Trägerbetriebes AWG-Genossen werden, stand die Mitgliedschaft nun auch der Belegschaft anderer örtlicher Betriebe und Einrichtungen offen. In der Folge stieg auch der Anteil der AWG am Wohnungsbau wieder an. Ab 1975 pegelte er sich bei rund einem Drittel aller neu gebauten Wohnungen ein. Zum Ende der DDR betrug der Gesamtbestand der AWG-Wohnungen rund eine Million. Etwa jeder sechste DDR-Bürger lebte in einer solchen Wohnung.
Kurze Blüte traditioneller Wohnungsgenossenschaften
Ergänzend zu den Arbeiterwohnungsbaugenossenschaften wurden 1957 auch die noch aus der Zeit vor 1945 bestehenden gemeinnützigen Wohnungsgenossenschaften revitalisiert und in Gemeinnützige sozialistische Wohnungsbaugenossenschaften (GWG) umgestaltet. Im Unterschied zu den AWG war die Mitgliedschaft bei den GWG nicht an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden. Gemeinsam war beiden Formen hingegen, dass auch die Mitglieder der GWG für ihre Genossenschaftswohnungen praktische Arbeitsleistungen erbringen mussten.
Die traditionellen Wohnungsbaugenossenschaften erlebten nach ihrer Umbildung in GWG eine sehr kurze „Blüte“. Zwischen 1959 und 1961 betrug ihr Anteil an den neu gebauten Wohnungen jeweils zwischen 28 und 29 Prozent. Doch schon ab 1962 sank diese Quote deutlich, begründet unter anderem durch die fehlende Anbindung der GWG an einen Trägerbetrieb. 1970 betrug ihr Anteil nur noch zwei Prozent; 1980 waren es dann sogar unter einem Prozent.