Überblick

Genossenschaften in der Bonner Republik

Mit der bedingungslosen Kapitulation des Oberkommandos der deutschen Wehrmacht am 7. und 9. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Zerstörte Häuser, Brücken und Fabriken bestimmten mit ihren Schutt- und Trümmerbergen das Bild in einem von Besatzungsmächten geteilten Deutschland. Während sich die Genossenschaften in der Sowjetischen Besatzungszone (bzw. der 1949 gegründeten DDR) schnell den Planvorgaben der sozialistischen Wirtschafts- und Finanzpolitik unterordnen mussten, konnten die Genossenschaften in den drei Westzonen an ihrer früheren Entwicklung anknüpfen.

Neugründung der Verbände

Der genossenschaftliche Unterbau war – abgesehen von den durch die Nationalsozialisten aufgelösten Konsumgenossenschaften – weitestgehend noch vorhanden. Anders sah es jedoch beim Überbau aus: Denn mit dem Kriegsende 1945 waren in den westlichen Besatzungszonen alle zentralen Genossenschaftsverbände und sonstigen -organisationen untergegangen bzw. aufgelöst worden. Verantwortlich hierfür waren unter anderem die „Dekartellisierungsgesetze“, mittels derer die Besatzungsmächte zunächst jede wirtschaftliche Machtkonzentration zu verhindern suchten.

Stattdessen entstanden verschiedene Arbeitsgemeinschaften der Prüfungsverbände in den einzelnen westlichen Besatzungszonen. Aus denen gingen wiederum bis 1948/49 vier nationale Spitzenverbände hervor: Den Anfang machte im September 1948 der Zentralverband deutscher Konsumgenossenschaften e.V. in Hamburg. Im November 1948 konstituierte sich der Deutsche Raiffeisenverband e.V. in Wiesbaden (mit Sitz in Bonn). Im Frühjahr 1949 folgten schließlich der Gesamtverband gemeinnütziger Wohnungsunternehmen e.V. in Frankfurt/Main und im August 1949 der Deutsche Genossenschaftsverband (Schulze-Delitzsch) e.V. in Wiesbaden.

Übergeordnete Entwicklungslinien

Bei der allgemeinen Entwicklung der Genossenschaften in der Bonner Republik lassen sich einige wesentliche Trends erkennen. Diese werden hier kurz zusammengefasst. Eine vertiefende Darstellung findet sich bei den Betrachtungen zu einzelnen Genossenschaftssparten (siehe Link-Box weiter unten).

  • Verstärkter Wettbewerb

    In den Jahren der Not nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges übten die genossenschaftlichen Mitgliederleistungen auf viele Menschen eine starke Anziehung aus. Die Genossenschaften verzeichneten allgemein einen starken Zulauf. Spätestens ab den 1960er Jahren sahen sie sich jedoch einem verstärkten Wettbewerbsdruck ausgesetzt: So litten die Volks- und Raiffeisenbanken unter dem Expansionsdrang der Sparkassen und Privatbanken. Im Einzelhandel gerieten sowohl die ländlichen Warenhandelsgenossenschaften als auch die Konsum- sowie die EDEKA- und REWE-Genossenschaften durch Supermärkte, Warenhäuser und Einkaufszentren unter Druck. Handwerker- sowie Bezugs- und Absatzgenossenschaften sahen sich mit einem Trend zu Großunternehmen sowie den Auswirkungen der Motorisierung und Technisierung konfrontiert.

  • Konzentrationsprozess

    Allgemein lässt sich festhalten, dass der verschärfte Wettbewerb und die neuen technologischen Entwicklungen zu einem weitreichenden Konzentrationsprozess innerhalb des Genossenschaftswesens führten. Besonders deutlich ist diese Entwicklung am Beispiel der Volks- und Raiffeisenbanken zu beobachten. Ihre Zahl sank allein zwischen 1949 und 1971 um knapp 50 Prozent von 11.942 auf 6.385 Banken. Bei den Konsumgenossenschaften gingen die eigenständigen Genossenschaften zwischen 1960 und 1977 um nahezu drei Viertel zurück, bei den Wohnungsbaugenossenschaften zwischen 1950 und 1976 immerhin um fast ein Drittel.

    Insgesamt verringerte sich die Zahl der Genossenschaften infolge des Konzentrationsprozesses in der Bundesrepublik und Westberlin zwischen 1960 und 1976 von 27.140 auf 13.505. Das entspricht einem Rückgang um gut 50 Prozent! Dass sich die Genossenschaften trotzdem eines weiter anhaltenden Zuspruchs erfreuten, zeigt die Entwicklung der Mitgliederzahlen. Diese stiegen im gleichen Zeitraum von 9,9 Millionen auf 12,9 Millionen an (wobei sich Mehrfachmitgliedschaften leider nicht herausrechnen lassen).

    Und selbst da, wo die Genossenschaften nicht miteinander fusionierten, machte sich der Trend zu größeren Betriebseinheiten bemerkbar – indem der Konsolidierungsprozess dann eben die Mitgliedsunternehmen erfasste. Insbesondere bei den zahlreichen Absatz-, Bezugs- und sonstigen Dienstleistungsgenossenschaften sah man sich dadurch mit einer stagnierenden oder gar schrumpfenden Mitgliederzahl konfrontiert.

  • Vom Ehrenamt zum Fachpersonal

    Im Ergebnis des Konzentrationsprozesses weiteten sich die Geschäftsgebiete der Genossenschaften stark aus. Parallel dazu nahmen die Aufgaben der Genossenschaftsleitung und auch ihre Verantwortung deutlich zu. Das begründete wiederum eine zunehmende Professionalisierung der Genossenschaftsmitarbeiter und der leitenden Vorstände. Statt ehrenamtlich tätiger Mitglieder kamen zunehmend ausgebildete Fachleute zum Einsatz.

    Die – auch durch zahlreiche gesetzliche Änderungen wie das 1976 für Kreditinstitute eingeführte „Vier-Augen-Prinzip“ bedingte – Weiterbildung und Spezialisierung der Mitarbeiter führte zum Ausbau des genossenschaftlichen Schulungswesens. Dazu zählt heute insbesondere die 1978 durch den Zusammenschluss der Bundesgenossenschaftsschule Raiffeisen und des Schulze-Delitzsch-Instituts entstandene Akademie Deutscher Genossenschaften (ADG) in Montabaur.

  • Diskussion über genossenschaftliche Ideale

    Die Ausweitung der Geschäftsgebiete, die Professionalisierung der Mitarbeiter und die stärkere Betonung des ökonomischen Denkens veränderte den Unternehmenscharakter der Genossenschaften. Diese Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde übrigens schon 1949 vom Genossenschaftswissenschaftler Otto Glaß in seiner „Genossenschaftskunde“ sehr gut vorausgesehen. Er prophezeite damals: „Man ersieht in allem eine fortwährende Tendenz ständig weitergehender Annäherung an die Rechtsform der Kapitalgesellschaften. Mit fortschreitender Entwicklung tritt das persönliche Verhältnis der Mitglieder zu ihrem Unternehmen immer mehr in den Hintergrund, die persönliche Zugehörigkeit verschwindet immer mehr und aus dem Genossen wird ein Teilhaber eines Erwerbsunternehmens; auch werden die Rechtsvorschriften immer mehr auf den Großbetrieb zugeschnitten.“

    Das hat Folgen für das Klima in den Selbsthilfevereinigungen: Kritiker sehen eine Entfernung von den genossenschaftlichen Idealen. Begründet wird dies unter anderem mit einer Abkehr der Genossenschaften vom – gerade von den Gründervätern wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen geforderten – Prinzip der kleinen, überschaubaren Geschäftsgebiete, in denen die Mitglieder einander und ihre wirtschaftlichen Verhältnisse noch sehr genau kennen. Teilweise ist hier sogar von einer „Pervertierung“ des Genossenschaftsgedankens die Rede. So bleibt es für die Genossenschaften seither eine große Herausforderung, Ideale und Traditionen mit den Anforderungen der heutigen Zeit in Einklang zu bringen.