Hintergrund

Der Systemstreit zwischen Raiffeisen und Schulze-Delitzsch

Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch – die sich persönlich nie begegneten – hatten teilweise sehr unterschiedliche Ansichten über die praktische Ausgestaltung ihrer Selbsthilfevereine. Daraus entwickelte sich ab Ende der 1860er Jahre eine heute als „Systemstreit“ bezeichnete Phase der Auseinandersetzung zwischen den beiden deutschen Genossenschaftspionieren.

Hermann Schulze-Delitzsch, Porträt um 1870Hermann Schulze-Delitzsch (Porträt um 1870)

 

Friedrich Wilhelm Raiffeisen - PorträtFriedrich Wilhelm Raiffeisen (Porträt)(Bilder: PA mb/lit

Ihre unterschiedlichen Ansichten fußten auf ihrem persönlichen Hintergrund: Schulze-Delitzsch, der liberale Politiker, suchte nach einem ökonomischen Ansatz, damit sich kleine Handwerker und Kaufleute in Selbsthilfe und unabhängig von staatlicher Subvention gegenüber großen Unternehmen behaupten konnten. Da günstige Kapitalbeschaffung dabei ein wesentliches Kriterium war, widmete er sich insbesondere den Vorschuss-Vereinen. Dagegen dachte Raiffeisen, als tiefreligiöser Sozialreformer, in erster Linie nicht an rein wirtschaftliche Zweckverbände. Getrieben von Christenpflicht und Selbsthilfe suchte er – der später nicht von ungefähr „Vater Raiffeisen“ genannt wurde – stattdessen eher nach einer Form der karitativen (Selbst-)Hilfe.

Ab Ende der 1860er Jahre zeichnete sich ein nachhaltiger Durchbruch der Raiffeisen’schen Darlehnskassen-Vereine ab. Damit wurden sie aber auch zunehmend zu einer unliebsamen Konkurrenz für das Genossenschaftsmodell Schulze-Delitzschs. Dieser sah sich selbst sehr wahrscheinlich als die überragende Autorität im deutschen Genossenschaftswesen, war er doch schließlich der Schöpfer des Genossenschaftsgesetzes von 1867. Raiffeisen war für ihn dagegen wohl nur ein Trittbrettfahrer seiner Ideen. Aus dieser Situation heraus entwickelte sich eine heute als „Systemstreit“ bezeichnete Phase der Auseinandersetzung zwischen den beiden Genossenschaftspionieren über die praktische Ausgestaltung ihrer Konzepte. Dabei ging es insbesondere um die Bedeutung und Höhe von Mitgliedsbeiträgen und Geschäftsanteilen, die (Anfangs-)Finanzierung der Vereine, Haftungsfragen, Ausleihfristen für Kredite, den landwirtschaftlichen Warenhandel als weiteren Geschäftszweck sowie die Verankerung christlich-ethischer Grundwerte in den Genossenschaften.

Mitgliedsbeiträge und Kapitalbildung

Ein wesentlicher Streitpunkt war die Bildung des Kapitalstocks der Genossenschaften. Hierbei setzten zwar beide neben der Annahme von Spargeldern insbesondere auf die Aufnahme von Fremdkapital gegen die Sicherheit der Mitglieder-Solidarhaft. Daneben waren für Raiffeisen anfänglich aber auch Kapitaleinlagen und Finanzzuschüsse der öffentlichen Hand denkbar. Schulze-Delitzsch lehnte dagegen jede Form der Staatshilfe konsequent ab. Stattdessen sah er in den angesammelten Mitgliedsanteilen und Mitgliedsbeiträgen eine wesentliche Quelle für das Betriebskapital – wogegen sich wiederum Raiffeisen aussprach. Er begründete das mit den gänzlich anderen Verhältnisse auf dem Land: Hier sei zwar Vermögen durchschnittlich noch genügend vorhanden, es fehle nur an barem Geld. Zudem seien solche Einzahlungen auch nicht notwendig, da die Landwirte und ihre Familien im Zuge der Solidarhaft ihr ganzes Vermögen, also ihr Haus, ihren Hof, die Länderein, das Vieh oder auch wertvolleres Mobiliar, in die Vereine einbrächten.

Kreditfristen

Unterschiedlicher Meinung waren Raiffeisen und Schulze-Delitzsch auch bezüglich der Fristen bei der Kreditvergabe. Nach Ansicht von Schulze-Delitzsch sollten drei Monate in den meisten Fällen für die Rückzahlung der Vorschüsse ausreichen. Nur in besonderen Fällen könnten Verlängerungen auf sechs bis neun Monate erteilt werden. Raiffeisen sprach sich dagegen über die kurzfristigen Kredite hinaus auch für die Vergabe von längerfristigen Darlehen aus. Damit trug er der Tatsache Rechnung, dass die Landwirte ihre Haupteinnahmen meist nur einmal im Jahr während der Erntezeit erzielten. Darüber hinaus argumentierte er, dass die erforderlichen Investitionssummen zur Verbesserung der ländlichen Wirtschaften meist zu hoch sind, um sie auf einmal in kurzer Zeit abzahlen zu können.

Kreditgenossenschaften als genossenschaftlicher Grundstein

Bei allen Divergenzen stimmten Schulze-Delitzsch und Raiffeisen jedoch in einem wesentlichen Punkt überein: Ihre gewerblichen Vorschuss- und Kreditvereine sowie die ländlichen Spar- und Darlehnskassen waren für beide die eigentlichen Dreh- und Angelpunkte bei der Entwicklung des deutschen Genossenschaftswesens. So zählte Schulze-Delitzsch bereits in seinem 1853 erschienenen „Assoziationsbuch für deutsche Handwerker und Arbeiter“ die Vorschussvereine zu den dringendsten Bedürfnissen für die kleineren Gewerbetreibenden, deren Nachahmung er nicht genug empfehlen könne. Das gelte insbesondere für kleinere Städte, in denen die Zahl der Handwerker für die Gründung spezieller gewerblicher Assoziationen nicht ausreichend sei. Und auch Raiffeisen betonte die Bedeutung der Bankgenossenschaften. Gerade die Darlehnskassen sollten es ermöglichen, die verschiedenen Bevölkerungsschichten eines Dorfes zur einträchtigen Zusammenarbeit zu vereinen. Denn erst durch die solidarische Haftpflicht innerhalb der Dorfgemeinschaft wurde der Einzelne kreditwürdig und war für sein dringend benötigtes Kapital nicht mehr nur auf wucherische Geldgeber angewiesen.

Bank- oder Universalgenossenschaften

Im Gegensatz zu Schulze Delitzsch, der die Bankgeschäfte seiner Vorschussvereine nicht mit anderen Aufgaben wie etwa dem gemeinsamen Wareneinkauf oder -absatz vermischt sehen wollte, sah Raiffeisen in seinen Darlehnskassen zudem den Grundstein für die Bildung umfassender Allzweckgenossenschaften. Die Gründung von mehreren Spezialgenossenschaften in einem Dorf hielt er infolge der meist kleinen, abgegrenzten Geschäftsgebiete mit einem überschaubaren Personenkreis für wenig zweckmäßig.

Das Ende des „Systemstreits“

Am Ende war es Schulze-Delitzsch, der – gestützt auf seine Stellung als angesehener Politiker im Deutschen Reichstag – Raiffeisen bis 1876/77 zu etlichen Änderungen an seinem Genossenschaftsmodell zwang. So kam Raiffeisen nicht umhin, bei seinen Genossenschaften unter anderem den seiner Meinung nach unnötigen Erwerb von Mitgliederanteilen einzuführen. Und auch die zwischenzeitlich von ihm gegründeten drei regionalen Zentralkassen und eine überregionale Generalbank musste er wieder liquidieren. Hier hatte Schulze-Delitzsch vehement gegen die dabei gewählte Unternehmensform der Genossenschaft und die damit einhergehenden, schwer überschaubaren Haftungsrisiken für die einzelnen Darlehnskassen-Vereine und deren jeweilige Mitglieder argumentiert.

Nachdem Schulze-Delitzsch so größtenteils seine Ansichten durchsetzen konnte, suchte er schließlich die Verständigung mit Raiffeisen. In zwei längeren Aufsätzen unterbreitete er den Raiffeisengenossenschaften 1877 seine Vorschläge, um die unter anderem bei den Kreditausleihfristen noch bestehenden Meinungsverschiedenheiten zu beseitigen. Doch für Raiffeisen war – sprichwörtlich gesehen – „das Tischtuch zerschnitten“, er verhielt sich Schulze-Delitzsch gegenüber ablehnend.

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Gründervätern trug vermutlich auch ihren Teil zur nachhaltigen Zweiteilung des deutschen Genossenschaftswesens in die großen Gruppen der ländlichen und der städtisch-gewerblichen Genossenschaften bei. Denn ursprünglich hatte Raiffeisen einen Zusammenschluss seiner Genossenschaftsorganisation mit dem Verband Schulze-Delitzschs erwogen. Noch 1866 bezeichnete er einen solchen Schritt „zur möglichen Herbeiführung eines einheitlichen Wirkens (…) als höchst wünschenswert“. Doch angesichts der sich zunehmend abzeichnenden Ablehnung der Raiffeisen’schen Darlehnskassen-Idee durch Schulze-Delitzsch nahm er hiervon wieder Abstand. Stattdessen rief Raiffeisen 1877 den „Anwaltschaftsverband ländlicher Genossenschaften“ als ersten Spitzenverband seiner Organisation ins Leben.