Noch im März 1933 wurden von der NS-Propaganda wesentliche Prinzipien der Genossenschaften als „historisch überlebt“ bezeichnet. Doch auch wenn die Genossenschaften kaum in das wirtschaftspolitische Ordnungskonzept der Nationalsozialisten passten, war ihre wirtschaftliche Bedeutung insgesamt inzwischen zu groß, als dass man sie einfach hätte auflösen können (ausgenommen die Konsumgenossenschaften). Stattdessen wurde das Genossenschaftswesen – nach erfolgter Gleichschaltung – zu einer „urdeutschen“ Idee erklärt und Genossenschaftspioniere wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen zu Vordenkern der nationalsozialistischen Bewegung gemacht.
Zur allgemeine Einstellung der Nationalsozialisten zum deutschen Genossenschaftswesen äußerte sich beispielsweise der thüringische NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel am 14. Mai 1939 in Weimar:
„Der Genossenschaftsgedanke ist nicht nur ein urdeutscher Gedanke, sondern diese Idee ist in ihrem Wesen auch vollkommen nationalsozialistisch und steht mit unserem Parteiprogramm, mit unserer Ideenwelt nicht im geringsten Widerspruch. Ich möchte noch mehr sagen: Die Genossenschaften sind heute für weite Kreise der deutschen Wirtschaft geradezu unerlässlich und unentbehrlich.“
Wie Friedrich Wilhelm Raiffeisen für die nationalsozialistische Ideologie vereinnahmt werden sollte, zeigt sehr schön eine Ansprache des Gauleiters Gustav Simon anlässlich einer Feierstunde am Raiffeisen-Denkmal in Neuwied (1938):
„Er [Raiffeisen – d.V.] ging von dem Grundsatz aus, der einzelne ist nichts, die Zusammenfassung bedeutet alles. Er hat die gesamten Kräfte des Volkes zusammengefasst und hat das Bauerntum stark gemacht. Wir sehen darin eine Parallele zu unserer heutigen Zeit. Der Nationalsozialismus hat von jeher kraftvoll erklärt, dass der einzelne wenig bedeutet. Wie Raiffeisen die berufständischen Fragen zu seiner Zeit, in der Zeit vor 100 Jahren, gelöst hat, so hat Adolf Hitler durch Zusammenfassung aller Kräfte die deutsche Volksgemeinschaft geschaffen, in der wir heute leben. Wir dürfen daher als Nationalsozialisten Friedrich Wilhelm Raiffeisen als einen der unserigen nennen. Das soll nun nicht bedeuten, dass Raiffeisen der erste Nationalsozialist oder überhaupt ein Nationalsozialist gewesen sei. Dafür war die damalige Zeit nicht reif. Aber er trat für die völkische Bewegung ein.
(…)
Wir Nationalsozialisten bejahen Raiffeisen auch deshalb, weil er dem Kapitalismus des 19. Jahrhunderts einen starken Schlag versetzt hat. Er hat den jüdischen Wucherkapitalismus als erster bekämpft. Er hat das deutsche Bauerntum frei gemacht aus den Klauen der jüdischen Zinswucherer, er hat unseren Bauern gezeigt, dass sie kein jüdisches Geld brauchen, wenn sie geeint zusammenstehen. Und wir als Nationalsozialisten haben gezeigt, dass man nicht nur auf dem Gebiet des Wirtschaftlichen, sondern auch auf sämtlichen Gebieten des Lebens ohne das Judentum fertig werden kann.
(…)
So möchte ich abschließend am heutigen Tage hoffen, dass der Geist Raiffeisens als guter deutscher Geist gewahrt, dass er nicht vergessen wird. Dieser Geist ist nicht nur für das Bauerntum, sondern für die ganze Nation, für das Dritte Reich Adolf Hitlers von Segen.“
Auch Hermann Schulze-Delitzsch wurde von den Nationalsozialisten zu einem Vordenker ihres Weltbildes gemacht. Neben seiner Bedeutung als zweiter großer Gründervater des deutschen Genossenschaftswesens betonten sie dabei insbesondere seine Rolle als „der erste Kämpfer gegen den Marxismus“, wie ein Artikel in den Blättern für Genossenschaftswesen (16. Juni 1933) zeigt:
„Die deutschen Genossenschaftsbanken und der neue, nationalsozialistische Staat(…) Es erscheint infolgedessen als gegeben, dass unsere bereits seit rund 80 Jahren vorhandenen Mittelstandsbanken ohne weiteres eine Eingliederung in die geplante Neuordnung erfahren, ja geradezu als Grundsteine dieser Entwicklung im neuen Staate dienen können. Gehörte die Lebensarbeit von Schulze-Delitzsch der heutigen Zeit an, so könnte es gar kein anderes Urteil geben, als dass Schulze von nationalsozialistischen Ideen ausgegangen sei und im Geiste und Sinne des Nationalsozialismus auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Organisation des deutschen Mittelstandes eine bahnbrechende und ganz hervorragende Leistung vollbracht hat.
Da nun Schulzes Lebensarbeit um mehr als ein halbes Jahrhundert, die Anfänge seines Wirkens etwa 90 Jahre zurückliegen, kann umgekehrt der Nationalsozialismus diesen großen Deutschen, glühenden Patrioten und hervorragenden Volkswirtschaftler mit gutem Grund als einen Vorläufer seiner Ideen betrachten. Dies darf auch dann gelten, wenn wir einmal über von dem gerade in unseren genossenschaftlichen Kreisen im Vordergrund stehenden Eindruck über Schulzes Tätigkeit als Gründer von Kreditgenossenschaften und Vater des deutschen Genossenschaftswesens absehen und an seinen Kampf gegen Ferdinand Lassalle, den ersten großen Propagandisten des Marxismus in Deutschland, denken. Hermann Schulze-Delitzsch war der erste Kämpfer gegen den Marxismus, und zwar ganz im Sinne des heutigen Nationalsozialismus. Denn er versuchte, den aufstrebenden Marxismus gleichfalls von innen heraus durch die Kraft einer zugleich nationalen und sozialen Idee und durch die Tat, also durch positive Leistungen auf dem Gebiete wirtschaftlicher Organisationen zu überwinden.“