Die in Deutschland zur Mitte des 19. Jahrhunderts begründete Genossenschaftsidee soll Immaterielles Kulturerbe der UNESCO werden. Einen entsprechenden Antrag haben die Deutsche Hermann-Schulze-Delitzsch-Gesellschaft und die Deutsche Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Gesellschaft parallel in Sachsen und Rheinland-Pfalz gestellt. Durch die Initiative wollen die Gründerväter-Vereine die Idee schützen und zugleich als wirtschaftliches Modell wieder stärker ins Bewusstsein rücken.
Aktueller Nachtrag vom 30. November 2016:
Die Genossenschaftsidee ist Kulturerbe der Menschheit!
Zur Begründung ihres Vorstoßes verweisen die Antragsteller darauf, dass es mittlerweile weltweit 800 Millionen Genossenschaftsmitglieder in über 100 Ländern gibt – und das „aufbauend auf der Idee der Genossenschaftspioniere Schulze-Delitzsch und Raiffeisen“. Zudem werden die parteipolitische und religiöse Neutralität betont. Insgesamt seien die seit über 150 Jahren geltenden ethischen Grundlagen der Genossenschaftsidee auch heute aktuell und „im Interesse zukünftiger Generationen und ihrer sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Partizipation zu bewahren und weiterzuentwickeln“.
Eine Schutzwürdigkeit der Genossenschaftsidee begründet der Antrag unter anderem durch eine drohende „Verwässerung genossenschaftsrechtlicher Inhalte“ und die weitere Angleichung an die Rechtsform der Kapitalgesellschaften. Zudem sei die Bewahrung genossenschaftlicher Prinzipien durch den „sinkenden Bekanntheitsgrad innerhalb der jüngeren Bevölkerung“ bedroht. Das liege auch daran, dass in vielen Bildungseinrichtungen kaum noch Wissen über die Rechtsform der Genossenschaft vermittelt werde.
(Den kompletten Antrag gibt es bei der Raiffeisen-Gesellschaft als .pdf-Datei zum Nachlesen.)
Die Aufnahme der „Genossenschaftsidee“ als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO wäre nach Ansicht der Antragsteller eine großartige Fortsetzung der Würdigung der Genossenschaften durch die internationale Gemeinschaft, nachdem die UNO bereits das Jahr 2012 zum „Jahr der Genossenschaften“ ausgerufen hatte. Um ihrem Antrag mehr Gewicht zu verleihen, haben sich beide Gründerväter-Gesellschaften der Unterstützung etlicher Persönlichkeiten aus Politik und Gesellschaft versichert. Unter ihnen finden sich – neben der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth als Schirmherrin der Bewerbung – unter anderem auch Kurt Beck, Norbert Blüm, Heiner Geißler, Bernhard Vogel, Wolfgang Tiefensee oder Theo Zwanziger (siehe Unterstützerliste als .pdf-Datei).
Kein allein deutsches Kulturerbe
Die Initiative, die Genossenschaftsidee zum Weltkulturerbe erklären zu lassen, ist zweifellos eine gute Idee. Liest man den Antrag allerdings genauer, wundert man sich schon über die regionale Fokussierung auf Deutschland, gerade im Hinblick bei Behauptungen wie: „In Sachsen und in Rheinland-Pfalz liegen die Wurzeln dieser heute weltweit wirkenden ‚Genossenschaftsidee‘.“ Es ist verständlich, dass die beiden Gründerväter-Gesellschaften ihre Namensgeber Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen in den Fokus des Antrags stellen. Beide haben zweifellos viel zur Entwicklung des Genossenschaftsgedankens beigetragen. Aber ihre Konzepte fußen eben auch auf den Überlegungen und Werken anderer Vordenker.
Die Idee der modernen Genossenschaften ist ja beileibe keine alleinige, urdeutsche Entwicklung. Entsprechende Überlegungen und praktische Umsetzungen gab es schon vor Schulze-Delitzsch und Raiffeisen insbesondere in England und Frankreich. Man denke nur an Robert Owen, William King, Phillippe Joseph Buchez, Louis Blanc, Jean-Frédéric Oberlin, die Redlichen Pioniere von Rochdale oder die frühe Blüte der Produktivgenossenschaften in Frankreich. Und auch in Deutschland gab es eine Reihe von weiteren Vordenkern und Wegbereitern der Genossenschaftsidee wie beispielsweise Ludwig Gall oder Victor Aimé Huber, die zum Teil wiederum im Austausch mit englischen und französischen Sozialreformern und Genossenschaftspionieren standen.
Insofern entstanden die Konzepte von Schulze-Delitzsch und Raiffeisen nicht in einer abgeschotteten Blase. Der Antrag auf Einstufung der Genossenschaftsidee als deutsches Immaterielles Weltkulturerbe und die Fokussierung auf die beiden bekanntesten deutschen Gründerväter greift damit eigentlich zu kurz. Warum werden die Verdienste anderer (vor allem auch englischer und französischer) Vordenker konsequent ausgeblendet? Und hätte man für den Antrag nicht beispielsweise auch das englische Rochdale Pioneers Museum und das dortige National Co-operative Archive mit ins Boot holen können? Das sind Fragen, auf die die Initiatoren des Welterbe-Antrags meines Wissens nach bislang keine Antwort gegeben haben und die durchaus diskutiert werden sollten.
Nachtrag vom 23. Oktober 2014: In der Ausgabe 3/2014 der „Blätter für Genossenschaftsgeschichte“ (S. 5) schildert Dr. Enrico Hochmuth vom Deutschen Genossenschaftsmuseum in Delitzsch in einem Leserbrief einige Hintergründe zur Erarbeitung dieses Antrages.
Hintergrund: Das Immaterielle UNESCO-Weltkulturerbe
Das UNESCO-Übereinkommen zur Erhaltung des immateriellen Kulturerbes fördert und erhält in allen Weltregionen überliefertes Wissen, Können und Alltagskulturen. Es soll lebendige Traditionen erhalten sowie ihre Bedeutung als Quelle von Vielfalt, regionaler Identität und nachhaltiger Entwicklung stärken. Zum immateriellen Kulturerbe zählen unter anderem Tanz, Theater, Musik, mündliche Überlieferungen, Naturheilkunde und Handwerkstechniken wie die Geigenbaukunst.
Das Abkommen zum Schutz traditionellen Wissens und Könnens wurde 2003 von der UNESCO verabschiedet. 2006 trat die völkerrechtlich verbindliche Konvention in Kraft. Inzwischen sind ihr mehr als 150 Staaten beigetreten. Deutschland ist seit dem 10. Juli 2013 Vertragsstaat des UNESCO-Übereinkommens. In einem ersten Schritt wird seither ein Verzeichnis der hierzulande gepflegten kulturellen Traditionen erstellt. Deutsche Nominierungen für internationale Listen des immateriellen Kulturerbes können erst nach Ende des ersten deutschen Auswahlverfahrens, frühestens im März 2015, bei der UNESCO eingereicht werden.
Weitere Informationen hierzu finden sich direkt auf der deutschen UNESCO-Webseite: Immaterielles Kulturerbe und Immaterielles Kulturerbe in Deutschland.
Weiterführende Artikel auf genossenschaftsgeschichte.info:
Quelle: Friedrich Wilhelm Raiffeisen-Gesellschaft
(Ende) genossenschaftsgeschichte.info/02.12.2013/mar
Herzlichen Glückwunsch für die Aufnahme der Idee von Wilhelm Raiffeisen in das Weltkulturerbe der
UNESCO. Nach abgeschlossener Leher zum Landw.Gesellen arbeitete ich viele Jahre bei der
WLZ Raiffeisen eG. und einer VR-Bank mit landwirtschaftlichem Warengeschäft. Später ging ich in die
Industrie, zunächst Bereich Pflanzenschutz, aktuell arbeite ich dort im Bereich Pharma.
Die Idee von Wilhelm Raiffeisn begleitet mich mein ganzes Leben, „Einer für Alle-Alle für Einen“ und
hat mich nie wieder losgelassen. Ich bin von der Idee von Raiffeisen infiziert und werde von ihr in meinem privat und beruflichen Leben geleitet. Ein Beispiel: in meiner Heimatstadt wollen engagierte
Bürger eine historische Scheune vor dem Verfall retten und für die Jugendarbeit zur Verfügung stellen.
Die Stadt hält sich aus der Finanizerung komplett heraus, so ist diese Frage von den Bürgern zuklären ist.
Von Beginn an habe ich die Form einer Genossenschaft in die Diskussion gebracht und so können wir
dieses gewaltige Projekt selbst durchführen. Die Tatsache, dass die Idee von Wilhelm Raiffeisen nun Weltkulturerbe der UNESCO ist, wird mich in den anstehenden Diskussionen positiv unterstützen.
Meine Hochachtung und Dank an die Frauen und Männer, die den Gedanken der Genossenschaftsform
von Raiffeisen und Schulze-Delizsch zum Weltkulturerbe gekürt haben. Klasse!
Mit freundlichen Grüßen
Werner Bauer